Automation in der Krankenversicherungsbranche
Interview mit Florian Hoffmann und David Kistler
Veröffentlicht am 13. Januar 2021
Krankenkassen sind bestrebt nicht wertschöpfende Kosten gezielt zu reduzieren. Dies gelingt durch die kontinuierliche Digitalisierung von Geschäftsabläufen und die sich dadurch ergebenden Automatisierungsmöglichkeiten, welche traditionell in Kernsystemen wie z.B. Syrius abgewickelt werden.
Dank der «Hyperautomation» eröffnen sich neue Möglichkeiten systemübergreifende End-to-End Automationen vorzunehmen, welche früher von Menschen ausgeführt wurden.
Die Automation erfolgt durch den kombinierten Einsatz von Robotic Process Automation (RPA), Machine Learning (ML), Chatbots, Business Process Management (BPM) und Process Mining.
Florian Hoffmann von der Sanitas und David Kistler von BOYDAK Automation beleuchten das Thema aus Sicht der Krankenversicherungsbranche.
Warum ist Automation ein Thema bei euch?
Florian Hoffmann (FH): Krankenversicherung ist in vielen Kernprozessen nach wie vor ein Hochvolumengeschäft. Es erreichen uns beispielsweise immer noch mehrere Millionen Briefe pro Jahr mit Leistungsabrechnungen, Kostengutsprachen etc. Würden wir alle diese Dokumente manuell verarbeiten, hätten wir riesige Aufwände und somit Kosten für unsere Kunden. Entsprechend ist Automatisierung ein sehr grosses Thema für uns bzw. muss sie eine unserer Kernkompetenzen sein, um im Markt bestehen zu können.
David Kistler (DK): Keine Firma kann es sich leisten, die gut und teuer ausgebildeten Mitarbeitenden mit zeitraubenden und repetitiven Copy-Paste-Arbeiten zu beschäftigen. Unternehmungen suchen mit Hyperautomation einen Weg, um ihre Mitarbeitenden von diesen Aufgaben zu befreien, um diese gewonnene Zeit für wertschöpfende und wettbewerbsdifferenzierende Massnahmen einsetzen zu können, wie z.B. die Entwicklung von neuen Produkten, Dienstleistungen, mehr Zeit für die Teamführung und Steigerung des Kundenservice. So können wir in der Schweiz Automation als Treiber der Wettbewerbsfähigkeit, als «Automate to Innovate», begreifen.
Wo und wieso wird Robotic Process Automation eingesetzt?
FH: Aufgrund der vorher beschriebenen Ausgangslage sind wir natürlich schon viele Jahre daran, so viele Anwendungsfälle wie möglich teilweise oder ganz zu automatisieren. Beispielsweise ist in unserem Leistungsabwicklungsprozess die Automatisierungsquote schon recht hoch. Diese weiter zu steigern ist nicht immer gleich einfach, da die noch nicht automatisierten Elemente naturgemäss eine höhere Komplexität aufweisen. Erschwerend kommt dazu, dass in diesen Prozessen verschiedene Systeme involviert sind und die entsprechenden Automatisierungsvorhaben eine gewisse Zeit für Analyse und Umsetzung benötigen. Genau hier kommt RPA ins Spiel: Ist eine Integration in die Kernsysteme teuer, sehr aufwändig oder erst in einigen Monaten geplant, kann es in einigen Fällen Sinn machen, mit Robotics «die Lücke zu füllen» und die Umsetzung rascher anzugehen.
DK: Wie Florian schön schildert, wird Robotics aus verschiedenen Gründen eingesetzt, z.B. als taktische Massnahme, aus Kostengründen oder wegen der schnellen Implementierungsgeschwindigkeit. Wir sehen auch klar, dass Interesse mit RPA einen Schritt weiter zu gehen und dadurch die Möglichkeit zu haben mit dem Thema Artificial Intelligence in der Unternehmung starten zu können und komplexere Abläufe zu automatisieren. Des Weiteren sehen wir auch, die Bestrebungen das Dienstleistungsangebot auf 24/7 auszubauen z.B. mit einem intelligenten Chatbot, welcher Robotic Process Automation nutzt, damit auf Kundenfragen nicht nur Standardantworten gegeben werden können, sondern dank RPA auch individuelle Auskünfte z.B. zu Versicherungspolicen gegeben werden können. Dies ist möglich, indem der Chatbot die benötigte Kundeninformation sich von einem RPA-Bot aus einem System ziehen lassen kann, um diese nach Erhalt an den Kunden zurückzuspielen.
Wie startet man ein solches Vorhaben?
FH: Zunächst sollte man sich einen Überblick über die aktuellen Prozesse verschaffen und diese mittels eines Kriterienrasters auf «RPA-Tauglichkeit» prüfen. Bei Sanitas kam uns zugute, dass wir unsere Prozesse schon vorgängig umfassend analysiert und dokumentiert hatten. Bei dieser Grundmenge ist dann die Wirtschaftlichkeit zu prüfen: Sind genügend Prozesse vorhanden, die einen Einsatz von RPA und den Aufbau der entsprechenden Infrastruktur, Governance und Skills rechtfertigen?
Wenn genügend Prozesse gefunden wurden ist zudem zu verifizieren, ob sie aus fachlicher Sicht bereits ausreichend vereinfacht worden sind. Generell ist zu empfehlen, Prozesse immer zuerst zu optimieren bevor sie automatisiert werden. Anschliessend macht es nach unserer Erfahrung Sinn, klein zu starten und mit ein bis zwei Prozessen Erfahrung zu sammeln. Ist das Thema etabliert muss strategisch geprüft werden, bis zu welchem Umfang das Thema intern aufgebaut und/oder extern skaliert werden soll. Schliesslich können dann weitere Roboter programmiert und eingeführt worden – RPA wird zu einem regulären Bestandteil der IT-Systemlandschaft.
DK: Ich teile Florian’s Meinung, jedoch sind viele Unternehmungen bezüglich Bewusstsein und Dokumentation ihrer Prozesslandschaft nicht auf einem so ausgereiften Stand. Hier kann aber z.B. mit einem «Process Discovery Workshop» oder mit «Process Mining» einer Software für die digitale Prozessablaufanalyse, welche anhand der in den Systemen hinterlassen Event-Logs die Abläufe analysiert, abgeholfen werden.
Danach gilt es einen ersten geeigneten Pilot-Prozess festzulegen, welcher einen schnellen und grossen Erfolg verspricht. Es ist wichtig, obwohl man mit einem Piloten klein startet immer das grosse Bild vor Augen zu haben, weil nach wenigen Wochen ist ein Pilot umgesetzt und man kann bereits erste Automatisierungserfahrungen sammeln.
Die Herausforderung ist es aber dann von dieser taktischen Ebene auf die nötige strategische Ebene zu gelangen, um das volle Potential ausschöpfen zu können. Dies gelingt nur, wenn diese Initiativen von der Führung und den Mitarbeitern getragen werden sowie die nötigen IT-Infrastruktur-Rahmenbedingen geschaffen werden. Eine hohe Automatisierungsreife ist ein klarer Wettbewerbsvorteil nicht nur kostenseitig, sondern auch als attraktiver Arbeitsgeber, welcher es seinen Mitarbeitern ermöglicht spannenderen Tätigkeiten rund um Innovation, Führung und Kundenbeziehungen nachgehen zu können.
Wie kommt das Thema bei den Mitarbeitenden an?
FH: Mehrheitlich positiv. Wir haben aber auch klar kommuniziert, dass durch den Einsatz von RPA keine Stellen wegfallen, sondern eine Verschiebung von Routine- zu mehrwertstiftender Arbeit erfolgen soll. Schliesslich finde ich den Begriff «Robotics» im Dienstleistungskontext etwas irreführend: Ob eine bisher Tätigkeit durch Parametrierung im Kernsystem, der Aufbau von Schnittstellen oder eben RPA neu automatisch abgewickelt ist macht ja für einen Mitarbeitenden am Schluss keinen Unterschied.
DK: Die Mitarbeiterakzeptanz steht und fällt mit der gewählten Kommunikationsstrategie. Hierzu braucht es zuerst eine Vision, welche mit der Organisation geteilt werden kann. Ebenso muss man die Benefits für die Mitarbeiter, für Ihre Arbeit und weshalb sie sich mit dem Thema auseinander setzen sollen kommunizieren. Diese Fragen können zum Beispiel in einer Vision wie folgt abgedeckt werden: «Wir automatisieren alle repetitiven Aufgaben, damit unsere Mitarbeiter sich auf spannendere Tätigkeiten konzentrieren können und bilden unsere Mitarbeiter aus, um mit diesen neuen Technologien umgehen zu können.» Ein anderer wichtiger Aspekt ist für die Mitarbeiter zu verstehen, was mit Personen geschieht, deren Aufgaben automatisiert werden.
Wenn dies nicht geklärt ist, führt dies zu Verunsicherungen. Hierauf antwortet einer unserer Kunden wie folgt: «Es wird niemand entlassen, dessen Aufgabe automatisiert wird. Gleichzeitig werden Neubesetzungen systematisch auf ihre Notwendigkeit überprüft.» Eine solche offene und direkte Kommunikation hebt die Verunsicherung auf und gibt entsprechende Sicherheit.
Auf was müssen Führungskräfte achten?
FH: Proaktive und empathische Kommunikation sowie Einbezug der betroffenen Mitarbeitenden. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass bei einer solchen Vorgehensweise die Mitarbeitenden sehr motiviert und interessiert mitarbeiten und selber beginnen, nach neuen möglichen Einsatzgebieten für Roboter zu suchen. Der grosse Vorteil von RPA für die Fachbereiche ist die Umsetzungsgeschwindigkeit. Bei einem optimalen Verlauf kann ein Roboter in wenigen Wochen eingeführt werden, was bei anderen Lösungen oft bis zu Monaten dauern kann.
Wichtig ist auch ein konstruktiver Austausch mit der IT: Oft sind Mitarbeitende der IT gegenüber RPA zunächst eher kritisch eingestellt da befürchtet wird, dass wenig nachhaltige Lösungen vorschnell eingeführt werden. Diese Bedenken sollte man ernst nehmen und bei jedem Use Case mit der IT gemeinsam und sorgfältig abwägen, ob ein Roboter wirklich die beste Lösung ist.
DK: Florian zeigt schön auf, was in der internen Kommunikation mit Mitarbeitern und zwischen der Fachabteilung und der IT beachtet werden muss, damit die Automatisierung reibungslos läuft. Diese Punkte sind zentral für einen RPA-Erfolg in einer Unternehmung. Weiter sehen wir, dass von der Führung Wege gefunden werden müssen, dass ihre Teams Anreize haben, die Automatisierung zu treiben. Dies gelingt, wenn man aufzeigen kann, dass Automatisierung hilft ihre Ziele zu erreichen und das volle Potential erst ausgeschöpft wird, wenn abteilungsübergreifend gedacht wird. Zudem sollte die Führung darauf achten, dass ihre Teams die nötigen Fähigkeiten haben Automatisierungspotenzial zu erkennen und die Mitarbeiter, welche mit Robotern zusammenarbeiten entsprechend ausgebildet werden. Diese Faktoren tragen dazu bei, dass das volle Automatisierungspotential ausgeschöpft werden kann.
Was bringt die Zukunft?
FH: Ich bin sehr gespannt, wie sich das Thema Artificial Intelligence weiterentwickeln wird. Bereits jetzt gibt es ja in isolierten Bereichen beeindruckende Funktionalitäten, z.B. im Themenbereich Optical Character Recognition (Text- und Bilderkennung). Allerdings ist meine bisherige Erfahrung, dass praxisnahe Anwendungen oft noch die Fähigkeiten der aktuellen Anwendungen übersteigen. Da klafft manchmal Anspruch und Wirklichkeit noch auseinander. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass in den nächsten Jahren signifikante Fortschritte erzielt werden können und wir hoffentlich viele spannende Use Cases umsetzen können. Aktuell läuft bei uns beispielsweise ein Projekt, in dem wir mittels AI die Mailtriage verbessern möchten. Dort fallen momentan immer noch viele manuelle Tätigkeiten an.
DK: Wir erleben aktuell eine rasante Weiterentwicklung des RPA- und AI-Bereiches. Wir sehen, dass die Technologien immer komplementärer werden und immer besser zusammenspielen. AI bringt das Hirn und RPA liefert die ausführenden Hände und Beine. Im Zusammenspiel entstehen sogenannte intelligent Robotics bzw. Automations. Dies ermöglicht es immer komplexere Prozesse zu automatisieren. Insbesondere die immer einfacher zu nutzenden und immer akkurater funktionierenden AI-Komponenten erschliessen hier neue Möglichkeiten.
Wir sehen grundsätzlich drei Felder, in welchen das Zusammenspiel von RPA und AI schon gut funktioniert und weitere Innovationen zu erwarten sind. Die drei Felder sind Konversation (Chatbot, Voice to Text, Text to Voice), Extraktion von semi- und unstrukturierten Daten (Rechnungseinpflegung in SAP) sowie im Planning/ Forecasting Bereich. Bei Letzterem können dank den immer leistungsstärkeren Systemen immer grössere Datenmengen, wie z.B. grosse Mengen an Vergangenheitsdaten, in den Berechnungen mitberücksichtigt werden. Ebenso können dank der ausgeklügelten Machine Learning Algorithmen deutlich mehr Faktoren, welche einen Einfluss auf die Planung haben, berücksichtigt werden und somit eine höhere Planungsgenauigkeit erreicht werden.
Die Sanitas Krankenversicherung gehört mit rund 841’000 Versicherten und rund 870 Mitarbeitenden an 6 Standorten in der ganzen Schweiz zu den führenden Schweizer Krankenversicherern. Sanitas ist die Krankenversicherung mit dem digitalen Mindset. Bei Sanitas arbeiten Macherinnen und Macher, Menschen, die etwas bewegen wollen. Sanitas arbeitet an neuen Lösungen, damit ihre Versicherten eine echte Wahl haben.
Weitere Informationen finden Sie auf sanitas.com
BOYDAK Automation ist ein führender Partner bei der Umsetzung von intelligenten Automationslösungen und Process Mining. Das Unternehmen arbeitet eng mit seinen Kunden und Software-Anbietern zusammen, um pragmatische und skalierbare Lösungen für die Restrukturierung und intelligente Automation von Business- Prozessen zu liefern.